In der Familienforschung gibt es die sogenannten „toten Enden“; aber auch die Erfolgsmomente, wo sich plötzlich Antworten auf Fragen ergeben, die man nicht (mehr) erwartet hatte.
Solch ein Moment ist Thema dieses Beitrags.
Ein kurzer Blick zurück in die Zeit vor ca. 80 Jahren
Meine Eltern (Theodor *1911 und Helene *1913) und meine beiden Brüder (Manfred *1939 und Klaus *1941) lebten bei meinen Großeltern (Franz *1888 und Rosalia *1889) auf dem Hof in Königswalde Nr. 135 (gegenüber dem Bahnhof).
Anfang der 40er Jahre wurde mein Vater zur Wehrmacht eingezogen und war im Flak-Gürtel westlich des Ruhrgebiets auf der Höhe von Wesel eingesetzt.
Den Hof bewirtschaftete mein Großvater zusammen mit seiner Frau und meiner Mutter, die sich auch, quasi als „Alleinerziehende“, noch um meine beiden Brüder kümmern musste. Zu dem Hof gehörten 15 ha Land mit 9 ha Ackerland und der Rest aufgeteilt in Wiesen- und Waldflächen. Die Bewirtschaftung dieses Hofs war mit den vorhandenen Arbeitskräften kaum zu schaffen.
Ab etwa 1943 unterstützte ein polnischer Zwangsarbeiter, mit Vornamen Marian bei der Arbeit. Ob Marian auf Antrag meines Großvaters oder durch Zuweisung auf dem Hilbig-Hof eingesetzt war, ist mir leider nicht bekannt.
Noch vor Kriegsende kehrte mein Vater nach einer schweren Verwundung und nur eingeschränkt arbeitsfähig wieder nach Königswalde zurück. Mein Großvater, Franz Hilbig, war inzwischen verstorben.
Marian blieb bis zur Vertreibung der Hilbig-Familie und deren Abtransport am 28.03.1946 auf dem Hof.
In den 50er bis 70er Jahren
In den 50er Jahren waren meine Eltern mit meiner Oma in ihrer „neuen“ Heimat in Westfalen „angekommen“. Die „alte“ Heimat blieb aber das Thema der abendlichen Familienrunden. Und immer wieder konnte ich den Namen „Marian“ hören. In den Erzählungen entwickelte sich bei mir ein kindliches Bild über ihn, als eine Person, die sich insbesondere auch nach dem Kriegsende und den damit verbundenen Wirren immer wieder schützend vor die Familie stellte.
Der Vorname „Marian“ brannte sich in mein Gedächtnis ein, sein Nachname war mir nicht bekannt.
In den 70er Jahren fuhren mein Vater und meine Brüder unabhängig voneinander in die „alte“ Heimat und besuchten Königswalde, das nach dem Krieg den Namen „Swierki“ (übersetzt Fichte) erhielt. Sie berichteten über ihre Besuche; über Marian sagten sie nichts oder es ist mir nicht in Erinnerung geblieben.
Das Jahr 2010 und die Zeit danach
Es sollten nun weitere fast 40 Jahre vergehen, bis ich mit Frau und Tochter im Jahr 2010 eine Reise nach Königswalde unternahm. Natürlich war der „alte“ Hilbig-Hof ein Ziel. Dort trafen wir vor dem Haus einen älteren Herrn, bei dem ich mich vorstellte. Er wusste mit dem Namen Hilbig sofort etwas anzufangen, auch wenn er erst nach der Vertreibung den Hof übernommen hatte. Das Gespräch war wegen der Sprachbarriere sehr holprig, aber mit „Händen und Füßen gestikulierend“ haben wir es dennoch geschafft. Ich fragte ihn, ob er einen „Marian“ gekannt habe, und er antwortete prompt: „Marian NN.[1] kapuuutt!“.
Welch eine Fügung: nach so langer Zeit hatte ich einen Nachnamen für unseren „Marian“, der wohl auch noch längere Zeit in Königswalde gelebt haben musste – so mein damaliger Kenntnisstand.
Und es sollten weitere Jahre vergehen, in denen ich meine früher eher sporadischen Familienforschungen intensivierte und dabei den Weg zur Forschungsgruppe Grafschaft Glatz fand. Im Jahr 2024 erhielt ich einen Hinweis, dass ein Mitforscher über eine Einwohnerliste von Königswalde aus dem Jahr 1945 verfüge, die von dem damaligen polnischen Bürgermeister erstellt wurde und in der sowohl deutsche wie auch polnische Bewohner der Ortschaft verzeichnet waren. Über diesen Mitforscher erhielt ich weitere Informationen zu Marian: Er war nach dem Krieg in Swierki (Königswalde) geblieben und hatte dort eine Familie gegründet. Er starb Anfang der 80er Jahre im Alter von 64 Jahren und hinterließ eine Tochter, die auch heute noch dort wohnt.
Über die Ehefrau des Mitforschers konnte ich Verbindung zu Marians Tochter aufnehmen. Es war nicht leicht, die richtigen Worte zu finden, weil ich trotz aller positiven Erzählungen meiner Eltern nicht wusste, welche Behandlung Marian als Zwangsarbeiter auf dem Hilbig-Hof wirklich erfahren hatte. Ich zitiere aus der Antwort der Tochter:
„… Um auf das Thema des Briefes zurückzukommen: wenn mein Papa über die Ereignisse im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt und seiner Arbeit auf dem Bauernhof lhrer Vorfahren sprach, äußerte er sich immer positiv über seine Arbeitgeber. Er sagte, er sei gut und mit Respekt behandelt worden und habe nie die Demütigung oder körperliche Aggression erlebt, die er auf anderen Bauernhöfen gesehen habe. Obwohl der Name Hilbig mit dem deutschen Aggressor in Verbindung gebracht wird, löste er in meiner Familie nie Abscheu oder Widerwillen aus, im Gegenteil, wir waren dankbar, dass unser Vater auf Menschen wie lhre Großeltern gestoßen ist. …“
Für diesen Brief und der darin enthaltenen Botschaft bin ich Frau M. sehr dankbar!
Das Unrecht und die Verbrechen, die zur Zeit des Nationalsozialismus von Deutschland ausgegangen sind, sind unentschuldbar. Und ich bin froh, dass sich meine Großeltern und Eltern in dieser schlimmen Zeit ihre Menschlichkeit bewahrt hatten.
Wir, die Nachkriegsgeneration in Deutschland, tragen keine Schuld an den Verbrechen, die von Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus begangen wurden. Aber wir stehen in der Verantwortung künftig auf ein friedliches Miteinander und den Schutz und die Wahrung der Menschenwürde hinzuwirken – über Grenzen hinweg!
[1] Name ist dem Autor bekannt und wurde wegen des Datenschutzes verkürzt!